Die europäische Erklärung zum Grundrecht auf Lese-und Schreibkompetenz

Gastbeitrag von Renate Valtin

Grundrecht auf Lese-und SchreibkompetenzSchriftsprachkompetenzen („literacy“) sind eine grundlegende Voraussetzung für Bildung und persönliche Entwicklung, da sie es dem Einzelnen ermöglichen, ein erfülltes und sinnstiftendes Leben zu führen und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist es alarmierend, dass in Europa eine/r von fünf Fünfzehnjährigen und nahezu 55 Millionen Erwachsene nicht über grundlegende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Dies mindert ihre Chancen, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden und birgt damit ein hohes Armutsrisiko.

Mangelnde Lese- und Schreibkompetenzen begrenzen auch die Möglichkeiten zu kultureller Teilhabe und lebenslangem Lernen. Beunruhigend ist die Tatsache, dass sich seit dem PISA-Schock 2000 die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit schwachen Lesekompetenzen im europäischen Durchschnitt nicht verringert hat, wie die internationalen Studien IGLU/PIRLS und PISA zeigen.

Europäisches Netzwerk zur Lese- und Schreibförderung (ELINET)

Die Europäische Kommission hat auf diese Herausforderung in jüngster Vergangenheit reagiert und die Bildung eines Europäischen Netzwerks zur Lese- und Schreibförderung (ELINET – European Literacy Policy Network) finanziert. ELINET bestand während der Projektlaufzeit aus 78 Partner-Organisationen aus 28 europäischen Ländern. Diese Partner stammen aus bestehenden nationalen und internationalen Verbänden und Organisationen (wie der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben DGLS, der Federation of European Literacy Associations FELA oder der UNESCO), Bildungsministerien, Stiftungen, Nicht-Regierungsorganisationen, Universitäten, Forschungseinrichtungen und Lehrerbildungs-Einrichtungen, Organisationen von Ehrenamtlichen und anderen Interessengruppen im Feld der Lese- und Schreibförderung. Das ELINET-Projekt wurde von der Universität zu Köln koordiniert unter der Leitung von Christine Garbe. Die Verfasserin war für die DGLS tätig und leitete unter anderem das Team Kindheit (Vorschulalter und Grundschulalter).

Ergebnisse von ELINET

Zu den mannigfaltigen Ergebnissen von ELINET zählen die Erstellung von Länderberichten für alle an ELINET beteiligten Mitgliedsländer, die Erarbeitung eines Europäischen Referenzrahmens guter Praxis der Lese- und Schreibförderung und einer Sammlung von Beispielen guter Praxis aus ganz Europa (alles nachlesebar auf der Internetseite www.eli-net.eu). Eine Task Force unter Leitung der Verfasserin hat die „Europäische Erklärung des Grundrechts auf Lese- und Schreibkompetenz“ erarbeitet und verabschiedet. Das Grundrecht lautet:

Jede Person in Europa hat das Recht, angemessene Lese- und Schreibkompetenz zu erwerben. Die EU-Mitgliedsstaaten gewährleisten, dass alle Menschen ungeachtet ihres Alters oder Geschlechts, ihrer sozialen und ethnischen Herkunft sowie ihrer religiösen Orientierung über die nötigen Ressourcen und Möglichkeiten verfügen, um gute Lese- und Schreibfähigkeiten zu erwerben, damit sie geschriebene Kommunikation in gedruckter und auch digitaler Form wirksam verstehen und verwenden können.

11 Voraussetzungen, um das Grundrecht auf Lese-und Schreibkompetenz zu verwirklichen:

  • Kleine Kinder werden in der Familie in ihrer sprachlichen und schriftsprachlichen Entwicklung gefördert.
  • Eltern werden aktiv darin unterstützt, den Sprach- und Schriftspracherwerb ihrer Kinder zu fördern.
  • Erschwingliche und qualitativ hochwertige Vorschulen und Kindergärten fördern die sprachliche und schriftsprachliche Entwicklung aller Kinder.
  • Ein anspruchsvoller Lese- und Schreibunterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene wird als Kernaufgabe aller Bildungsinstitutionen angesehen.
  • Alle Lehrkräfte erhalten eine solide Aus- und Fortbildung, damit sie der anspruchsvollen Aufgabe der Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenzen im Sprach- und Fachunterricht gerecht werden können.
  • Digitale Kompetenz wird bei allen Altersgruppen gefördert.
  • Lesen zum Vergnügen wird aktiv gefördert und angeregt.
  • Bibliotheken sind für alle Bürger/innen leicht zugänglich und bestmöglich ausgestattet.
  • Kinder und Jugendliche, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, bekommen angemessene Hilfe von Expertinnen und Experten.
  • Erwachsene werden dabei unterstützt, die notwendigen Lese- und Schreibfähigkeiten zu entwickeln, um aktiv an der Gesellschaft teilhaben zu können.
  • Politische Entscheidungsträger, Fachleute, Eltern und kommunale Einrichtungen arbeiten gemeinsam an dem Ziel, allen Menschen den Erwerb angemessener Lese- und Schreibkompetenz zu ermöglichen und Bildungsbenachteiligung zu überwinden.

Weiterführende Informationen

Auf der Abschlusskonferenz im Januar 2016 in Amsterdam wurde die Erklärung der Öffentlichkeit vorgestellt und von allen ELINET-Partnern unterzeichnet. Auf der ELINET-Netzseite ist ein kurzer Videoclip zur „European Declaration of the Right to Literacy“ vorhanden; die Erklärung in der kurzen Version ist in der englischen Originalversion und in 20 weiteren Sprachen zum Download verfügbar. Eine längere Version in englischer Sprache, die ebenfalls auf der Netzseite steht, enthält konkrete Handlungsempfehlungen für verschiedene Akteure, vor allem für Bildungspolitiker.

Hier finden Sie die zentralen Informationen zur „Literacy Declaration“.

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