Dyskalkulie – Der Dauerstreit um den Nachteilsausgleich und die Rechtslage

Gastbeitrag von Bernhard Ufholz

Hilft es Kindern, die sich mit dem Rechnen-Lernen schwer tun, wenn sie einen Nachteilsausgleich und/oder Notenschutz bekommen?

Verbände der Eltern von Dyskalkulie oder Rechenschwäche betroffener Kindern fordern dies vehement. Bei der Definition von Dyskalkulie stehen sich zwei Paradigmen gegenüber: das Behinderungs-Paradigma und das Verstehens-Paradigma.

Das Behinderungs-Paradigma

Das Behinderungs-Paradigma geht davon aus, dass es sich bei der Dyskalkulie um einen genetischen Defekt handelt, Dieser Defekt sei „persistierend“, also „nicht heilbar“ und somit könne er nicht überwunden werden.

Das Verstehens-Paradigma

Wer dem Verstehens-Paradigma folgt, sieht Dyskalkulie nicht als Behinderung oder Krankheit und bemüht sich, Bedingungen zu schaffen, die es betroffenen Kindern erlauben, das Rechnen zu lernen.

Schulsystem und Notensystem

Die Ablehnung eines Nachteilsausgleichs durch die Schulverwaltung macht den Zweck unseres derzeitigen Schulsystems deutlich. Der besteht nur sehr bedingt darin, jungen Menschen Wissen und Werte zu vermitteln. Denn Schule will immer, dass der Erfolg der Unterrichtung in Noten Niederschlag finden soll. Die Leistungen der Schüler sollen in der Notenskala von Note Eins bis Note Sechs eingeordnet werden. Dabei werden schlechte Noten nur selten als Aufforderung verstanden, Schülern das beizubringen, was sie offenbar noch nicht verstanden haben.

Insbesondere in der Mathematik führt mangelhaftes Verständnis des vorangegangenen Stoffes fast zwangsläufig zum Unverständnis des nachfolgenden. Wer z.B. das Teilen nicht verstanden hat, dem wird sich auch die Bruchrechnung, die Prozentrechnung und das Rechnen mit Kommazahlen nicht erschließen.

Das Notensystem dient der Selektion

Es soll feststellen, welche Kinder für weiterführende Schulen geeignet sind und welche dieses Privileg nicht erhalten.

Diesem Selektionszweck stimmt letztlich auch das Behinderten-Paradigma zu, wenn es das Problem im Individuum verortet. Stellt man nämlich einen Defekt oder die Krankheitshypothese in den Vordergrund, entlässt man die Schule aus der Verantwortung. Es liegt dann am betroffenen Kind, dass es in unseren Schulen mit einer Prävalenz von zwei bis acht Prozent nicht in der Lage sei, das Rechnen zu lernen.

Auch für die betroffenen Schülerinnen und Schüler bietet die Diagnose „Dyskalkulie“ vermeintlich eine emotionale Entlastung. Eine Entlastung, die gleichzeitig jegliche Motivation hemmt, sich anzustrengen, zu üben und zu lernen. Denn ihre „Krankheit“ ist ja „nicht heilbar“. Kurz: Die Zuschreibung bzw. Diagnose „Vorliegen einer Dyskalkulie“ stigmatisiert Kinder und befreit das Bildungssystem von seiner Verantwortung.

Das Verstehens-Paradigma geht davon aus, dass alle Kinder rechnen lernen können. Von Rechenschwäche betroffene Schülerinnen und Schüler haben lediglich besondere Schwierigkeiten im Erlernen des Rechnen. Rechenschwierigkeiten können überwunden werden, wenn Kindern ein Verständnis der basalen Grundlagen der Mathematik vermittelt wird und sie in die Lage versetzt werden, auch über die Grundschule hinaus dem Stoff folgen zu können. Das braucht Zeit, Geduld, Zuwendung und pädagogisches Geschick.

Kann ein dauerhafter Nachteilsausgleich helfen?

Wenn man annimmt, dass Rechenschwierigkeiten durch Unterricht oder durch lerntherapeutische Maßnahmen überwunden werden können, dann wäre zumindest eine Notenaussetzung hilfreich. Diese sollte so lange gewährt werden, bis das Ziel „Anschluss an das mathematische Verständnis der Alterskohorte“ erreicht ist.

Fazit

Rechenschwierigkeiten sind in den allermeisten Fällen keine persistierende neuronale Störung, sondern ein durch Mängel im Schulunterricht und die Lebensumstände des Kindes herbeigeführtes Versagen beim Rechnen. Es gilt festzustellen, welches Nichtverstehen bei einem rechenschwachen Kind vorliegt, um ihm dann das erforderliche Verständnis Schritt für Schritt zu vermitteln. Denn ein rechenschwacher Schüler hat dem Unterricht offensichtlich nicht die entscheidenden mathematischen Einsichten und Kenntnisse entnehmen können, die nötig sind, um mit Mengen und Zahlen sachgerecht umzugehen. Also ja, ein Notenschutz kann helfen, bis ein Kind die Grundlagen des Rechnens durchdrungen hat.


Bernhard Ufholz, Diplom-Soziologe, Studium der Soziologie und Pädagogik.
Seit 2015 Dyskalkulie-Therapeut im Auftrag des Jugendamts Fürstenfeldbruck und des Mathematischen Instituts zur Behandlung der Rechenschwäche in München.


Bildquellen: Foto Bernhard Ufholz @ privat, Screenshot Lurs-Einmaleins @ LegaKids Stiftungs-GmbH

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3 Responses zu “Dyskalkulie – Der Dauerstreit um den Nachteilsausgleich und die Rechtslage”

  1. Paul 28. Februar 2023 um 10:49 #

    Ich war auch nicht immer mit dem Notensystem früher einverstanden;(

    Paul

  2. Carsten Kossendey 13. Mai 2023 um 0:06 #

    Dem Fazit kann ich nicht zustimmen. Unsere Tochter ist seit zwei Jahren bei einer hervorragenden Therapeutin. Mit 12 mathematisch auf dem Stand der zweiten Klasse. Hat keinerlei Bezug zu Uhrzeiten und Preisen im Laden.
    Alles, was heute gelernt wird ist morgen wieder weg.

    • Bernhard Ufholz 16. November 2023 um 17:58 #

      Solche Fälle gibt es offensichtlich, aber es sind wesentlich weniger, als man gemeinhin annimmt. Die allermeisten Kinder können rechnen lernen. Meiner Schätzung nach, die sich aus der TIMSS, einer internationalen Vergleichsstudie der Rechenleistungen von Kindern der vierten Jahrgangsstufe ergibt, sind es vermutlich 0,3 Prozent.

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