Formen der Diagnostik bei LRS
Grundsätzlich sind zwei Formen bzw. Wege der Diagnostik zu unterscheiden:
Einmal die medizinisch orientierte Diagnostik innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Sie zielt darauf ab, bei einem Kind im schriftsprachlichen Bereich eine Störung im Sinne einer Lese-Rechtschreib-Störung bzw. „Legasthenie“ festzustellen bzw. auszuschließen. Zum anderen die pädagogisch orientierte Diagnostik: Sie möchte klären, an welchem Entwicklungspunkt innerhalb des Schriftspracherwerbs ein Kind sich aktuell befindet, welche Schwierigkeiten auftreten und welche Konsequenzen für die Förderung sich daraus ergeben.
In beiden Bereichen wird teilweise mit ähnlichen oder denselben Testverfahren gearbeitet.
Die medizinisch orientierte Diagnostik bei LRS
Viele Mediziner/innen betrachten aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation eine „Lese-Rechtschreib-Störung“ wie eine chronische Krankheit oder Behinderung. Eine solche Sicht auf die Problematik war lange besonders mit dem Begriff „Legasthenie“ verknüpft, den manche Fachleute, vor allem aber viele Laien noch heute gebrauchen.
Ausschlaggebend für die Diagnose sind psychometrische Tests (also Testverfahren aus der Psychologie), nämlich Intelligenztests sowie standardisierte Lese- und Rechtschreibtests. Die medizinische Diagnose „Lese-Rechtschreibstörung“ erfolgt, wenn ein Kind mindestens normal intelligent ist und seine Leistungen im Lesen und/oder Schreiben demgegenüber signifikant abfallen (IQ-Diskrepanz-Kriterium).
Eine anhaltende kritische Diskussion in Fachkreisen gibt es u.a. zu dem IQ-Diskrepanz-Modell, da allgemeine Begabung (IQ) und Schriftspracherwerb keineswegs in linearem Zusammenhang stehen, ebensowenig wie z.B. ein hoher IQ-Wert eine entsprechend hohe Musikalität erwarten lässt.
Folgen im Selbst- und Fremdbild des Kindes
Zunächst kann die medizinische Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ Kind und Eltern entlasten. Die Frage „Wer oder was ist schuld?“ scheint geklärt: Weder Eltern noch Kind noch Lehrer oder Schule sind verantwortlich für die Schwierigkeiten – schuld ist die „Legasthenie“. Parallel dazu wird das Kind jedoch in seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten nun anders wahrgenommen. Die Lernschwierigkeiten werden häufig wie eine Art „Krankheit“ oder „Behinderung“ gesehen. Daher gehen Eltern und Lehrkräfte nun eher davon aus, dass an den Schwierigkeiten des Kindes wenig zu ändern ist, da sie genetisch oder neurobiologisch begründet seien. Auch das Selbstbild des Kind verändert sich: Etwas an ihm – an seinem Gehirn oder seinen Genen – muss wohl „gestört“ sein, das wurde ja beim Arzt festgestellt.
So stellt sich nach anfänglicher Erleichterung häufig eine tiefe Entmutigung bis Resignation ein: „Ich hab’ Legasthenie, da kann ich das sowieso nie lernen.“
Die pädagogisch orientierte Förderdiagnostik
Das Ziel dieser Diagnostik ist es, den schriftsprachlichen Entwicklungsstand eines Kindes einzuordnen, um konkrete Förderschritte einzuleiten. Alle Kinder bei ihrem Erwerb und Einsatz der zentralen Kulturtechniken Lesen und Schreiben bestmöglich zu unterstützen, ist eine ebenso schwere wie verantwortungsvolle Aufgabe – besonders in der Primarstufe. So spielt sowohl in der Schule wie auch in der außerschulischen Förderung die pädagogische Diagnostik eine maßgebende Rolle.
Verschiedene Lese-Rechtschreib-Tests können sowohl im Klassenverband als auch mit einzelnen Schülern durchgeführt werden. Für die Förderdiagnostik spielen Beobachtungen im Schulalltag ebenso eine Rolle wie die Testergebnisse und der Austausch mit anderen Lehrkräften sowie den Eltern.
Folgen im Selbst- und Fremdbild des Kindes
Eine begleitende Förderdiagnostik ermöglicht, dass das Kind weiterhin als kompetent wahrgenommen wird. Es befindet sich an einem bestimmten Entwicklungspunkt und hat schon einiges geleistet, um dorthin zu gelangen. Nun können nächste Schritte geplant werden, die es dem Kind ermöglichen, in der Schriftsprache weitere Fortschritte zu erzielen. So werden mit Hilfe der pädagogischen Diagnostik stigmatisierende, blockierende Zuschreibungen wie „Der ist ja Legastheniker …“ vermieden.
Werden bei einem Kind anhaltende Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten vermutet, hilft zur ersten Einschätzung der schriftsprachlichen Kompetenzen eine kleine Checkliste. Aus dieser Einschätzung heraus kann sich eine weitere Diagnostik als sinnvoll erweisen.
Fazit:
Die Herangehensweisen sind bei den vorgestellten Diagnostikformen trotz teilweise identischer Tests recht unterschiedlich: Im medizinischen Bereich wir das Kind mit seinen Fähigkeiten bzw. Schwächen relativ isoliert betrachtet. In der pädagogischen Diagnostik wird das Kind mit seinen aktuellen Kompetenzen, Problemen sowie den schulisch-umgebenden Faktoren gemeinsam gesehen. Die Zuschreibungen von außen fallen unterschiedlich aus und wirken sich entsprechend auf das Selbstkonzept und das Gefühl von Selbstwirksamkeit des Kindes aus.
Mehr über die unterschiedlichen Diagnostikformen finden Sie übrigens in Kurs 3 von alphaPROF „Feststellung der Lese‐/Rechtschreib‐Kompetenz“. Bitte beachten Sie, dass Sie die alphaPROF-Kurse nur in der vorgesehenen Reihenfolge absolvieren können.
Bildquellen:
Alle drei Illustrationen: © LegaKids Stiftungs-GmbH / Jakob Weyde
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