Legasthenie: Die Mär vom defizitären Gehirn

„Unglaublich formbar: Lesen lernen krempelt Gehirn selbst bei Erwachsenen tiefgreifend um“

Pressemitteilung mit idw-Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet

Gehirn durch Lesen unglaublich formbarDas Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat eine Studie mit erwachsenen Analphabeten durchgeführt. Sie zeigt: Während wir lesen lernen, werden zahlreiche Hirnregionen umfunktioniert, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Diese Ergebnisse regen gleichzeitig dazu an, die weit verbreitete These von angeborenen Defiziten bestimmter Hirnregionen bei  LRS bzw. „Legasthenie“ zu hinterfragen. Die Pressemitteilung zur Studie wurde im März mit dem idw-Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.

Analphabetismus als Tabuthema in Deutschland

Die großangelegte Studie, in der Analphabetinnen sechs Monate lang lesen und schreiben lernten, fand in Indien statt. Dort ist die Analphabetismusrate besonders hoch. Auch in Deutschland gibt es 7,5 Millionen Erwachsene mit sogenanntem funktionalem Analphabetismus. Doch die Forscher konnten die Studie hier nicht durchführen, weil dieses Thema in unserer Gesellschaft extrem schambesetzt und daher stark tabuisiert ist.

Ergebnisse: Gute Lernerfolge sind möglich und betreffen auch tiefe Hirnregionen

Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis. Nach sechs Monaten Unterricht erreichten die Teilnehmerinnen schon ein Niveau, das sich mit dem von Erstklässlerinnen vergleichen lässt. Bisher wurde angenommen, dass sich dabei nur eher oberflächliche Gehirnregionen verändern. Die Studie konnte nachweisen, dass die Veränderungsprozesse durch das Lesen-Lernen und -Üben auch sehr tiefe und evolutionär gesehen alte Hirnregionen betreffen.

Folgen für die Forschung zu LRS

Die erstaunlichen Lernerfolge der Studienteilnehmer sind nicht nur ein hoffnungsvolles Signal an erwachsene Analphabeten. Sie werfen auch ein neues Licht auf mögliche Ursachen von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS, „Legasthenie“). Bisher wurden Fehlfunktionen des Thalamus als eine mögliche angeborene Ursache von LRS diskutiert, die zu grundlegenden Defiziten in der visuellen Aufmerksamkeit führen könnten. „Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetrainings so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden“, so der Leiter der Studie, Michael Skeide.

Folgen für die Therapie und das Selbstbild von Kindern mit LRS

In der Lerntherapie begegnen wir immer wieder Kindern, die davon überzeugt sind, dass mit ihnen und insbesondere mit ihrem Gehirn irgendetwas grundlegend nicht in Ordnung sei. Oft ist die therapeutische Arbeit dadurch stark behindert: Die Kinder glauben gar nicht daran, dass sie wirklich lesen (und/oder schreiben) lernen können. Die vorliegende Studie zeigt eindrucksvoll, dass diese Überzeugung nicht der Realität entspricht. Die Ergebnisse können so dabei unterstützen, die Selbstwirksamkeit von Kindern mit LRS zu stärken bzw. aufzubauen.

zur Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

zum Text zur Auszeichnung beim Informationsdienst Wissenschaft (idw)

 

Bildquelle: fotolia.de © V. Yakobchuk 

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9 Responses zu “Legasthenie: Die Mär vom defizitären Gehirn”

  1. Anerkannter Legastheniker 5. April 2018 um 12:53 #

    Legasthenie ist nicht LRS!!!!!!
    Bitte keinen Unsinn verbreiten!!!!!
    Ich kenne alle rechtschreibregel als hätte ich Germanistik studiert und dennoch schreibe ich manchmal meinen eignen Namen Falsch, aber das sicher nicht weil ich mir nicht merken kann wie man es richtig macht…

    Wenn sie Diplom Psychologin sind, ist das schön und gut sind sie zudem Logopädin? vorher dürfen sie keine Legasthenie feststellen.

    Es Nervt mich einfach mit Menschen in einen Topf geworfen zu werden die die Möglichkeit haben schreiben und lesen zu lernen und es einfach nicht tun…

    Heute Lese ich schneller als alle menschen die ich kenne (inklusive Dozenten )dank der richtigen Technik.
    Allerdings bemerke ich nicht das ich Fehler beim schreiben mache, also bitte bitte hört auf Legasthenie mit Faulheit oder Mangelndem Iq gleichzusetzen.

    • mm
      Britta Büchner 5. April 2018 um 14:03 #

      Lieber Leser „Anerkannter Legastheniker“,

      vielen Dank für Ihren Kommentar, auf den ich gerne eingehen möchte.

      Nun ist es so, dass die Unterscheidung zwischen Legasthenie (als bleibender, evtl. angeborener „Störung“) und LRS (als vorübergehender Schwäche o.ä.) wissenschaftlich nicht haltbar ist. In der Diagnostik gibt es die Kategorie „Legasthenie“ deshalb gar nicht (mehr), hier spricht man schon lange von „Kindern und Jugendlichen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung“.

      Der obige Artikel macht darauf aufmerksam, dass es einige festsitzende Annahmen und (Vor-)Urteile zum Themenbereich „LRS/Legasthenie“ gibt, die dazu führen können, dass man anhaltende Lese-Rechtschreicb-Schwierigkeiten für unveränderbar hält. Von Faulheit oder mangelndem IQ ist hier nicht die Rede.

      Wenn Sie sich mit alphaPROF und LegaKids beschäftigen, werden Sie sehen, dass es hier vor allem darum geht, dafür zu sorgen, dass betroffene Kinder und Familien sowie Lehrkräfte angemessene Unterstützung erhalten. Und darum, dass man mit der Unterstützung nicht aufhört und aufgibt, weil das Kind eben „Legasthenie“ hat …
      Sie beschreiben selbst wie gut Sie lesen gelernt haben. D.h. Sie haben die wesentliche Kulturtechnik unserer Gesellschaft trotz anfänglich hoher Hürden erworben und gemeistert. Super! Die Rechtschreibung bereitet Ihnen nach wie vor Schwierigkeiten, obwohl Sie die Regeln prinzipiell beherrschen. Das ist sicher manchmal schwierig, aber wie an Ihrem Text sichtbar, sind Sie auch hier weit gekommen.

      Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg – und auch viel Freude beim Lesen!

      Viele Grüße

      Britta Büchner

      PS: Die entsprechende Diagnostik wird in Deutschland vorwiegend von Kinder- und Jugendpsychiatern durchgeführt, z.T. auch von einschlägig erfahrenen Psychologen, meines Wissens üblicherweise nicht von Logopäden.

  2. mm
  3. Yvonne 5. April 2018 um 16:16 #

    Ich muss meinem Vorredner recht geben – ja, fast jeder Mensch kann lesen und schreiben lernen, die Studie zeigt, dass das auch Erwachsene können, die das zuvor versäumt haben. Interessant wird es erst, wenn die Studie analysiert, ob und welcher Anteil der erwachsenen zu alphabetisierenden auch eine LRS zeigt. Mein Sohn ist betroffen, und wie viele Legastheniker ist er überdurchschnittlich intelligent. Er könnte erst in der 4. VS seinen Namen richtig schreiben. Ja, der Thalamus ist formbar. Und ja, nicht jedem gelingt dies so wie den meisten anderen. Die Studie kann auch so ausgelegt werden, dass ein betroffener sich „nur bemühen muss“, denn er muss ja „nur“ den Thalamus formen. Eine sehr gefährliche Aussage, da sind wir dann wieder zurück in den 70ern…

    • mm
      M.K. 7. April 2018 um 11:38 #

      M.K. Nicht die Kinder müssen sich „nur bemühen“, wir – also die Eltern, Lehrkräfte und das Bildungssystem – müssen uns bemühen, die Kinder entsprechend zu fördern und zu unterstützen. Die Kinder als „Legastheniker“ zu diagnostizieren, reicht nicht – das wäre tatsächlich ein pädagogisches Zurück. Jedes Kind hat das Recht auf individuelle Förderung – dass dieses Recht durchgesetzt wird, ist unsere Aufgabe. Dieses Recht wird leider ständig konterkariert, indem den Kindern alle möglichen Störungen bescheinigt werden.

  4. Kruemel68 10. April 2018 um 12:38 #

    Sehr geehrter „Anerkannter Legastheniker“ ( es tut mir leid, dass ich Sie so anschreiben muss), mich interessiert : Mit welcher Methode konnten Sie Ihre Leseschwierigkeiten überwinden?

  5. Nichtsowichtig 10. April 2018 um 19:16 #

    Ich möchte hier das ernstgemeinte UND humorvolle Video von „Doktor Allwissend“ bzgl. Legasthenie allen Betroffenen empfehlen. Borja Schwember aka Doktor Allwissend (Ironie!) hat nach vielen Schwierigkeiten und einer diagnostizierten Legasthenie noch als Erwachsener Abitur gemacht und ein Sprachstudium erfolgreich abgeschlossen.
    Als in den 70er Jahre diagnostizierte Legasthenikerin habe ich mit Hilfe von Spieltherapie, abendlichem Vorlesen mit abrupten Vorlese-Stopp und Lese- und Rechtschreibförderung (an die ich mich so gut wie nicht als hilfreich erinnere) am Ende Regel-Abitur mit LK Deutsch gemacht.
    Als Hort-Erzieherin mit dieser persönlichen Geschichte erkenne ziemlich schnell Kinder mit LRS bzw. LRSchwäche, wie es leider in Bayern oft heißt. Die Haltung der Lehrerinnen und Eltern ist nach wie vor oft, es wird sich schon verwachsen.
    Bis dann in der 3./4.Klasse etwas getan werden muss, ist der Selbstwert des Kinds bereits grundlegend beschädigt und die Lücken groß.
    Alles sehr unnötig.

    Daher empfehle ich Lega-Kids, wo ich kann.

    Falls die Frage aufkommt, was wirklich geholfen hat:
    Liebevolle Zuwendung UND Lesen, Lesen und Lesen.

  6. D. Wilke 13. April 2018 um 0:14 #

    Dass erwachsene Analphabeten lesen lernen und sich dabei das Gehirn tiefgreifend verändert ist eine Sache, aber wie man diesen Sachverhalt in Bezug zu einer schweren Lese- Rechtschreibstörung setzt erschließt sich mir nicht, denn die untersuchten Erwachsenen sind ja vermutlich aufgrund von Bildungsdefiziten Analphabethen geblieben.
    Sicherlich gibt es viele Menschen, die anfängliche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, die man mit einem gewissen Training überwinden kann. Vermutlich trifft das sogar auf die Mehrheit der Lese- und Rechtschreibschwachen Menschen zu.

    Aber es gibt tatsächlich auch solche Menschen, die trotz intensiver individueller Förderung beim Lesen und Rechtschreiben nachhaltige Probleme haben – die auch zum Ende der Grundschulzeit noch immer eine T-Wert-Differenz von 15, 20 oder mehr aufweisen – d. h. einen Intelligenzwert, der für das Gymnasium qualifizieret bei einer gleichzeitigen Lese- und Rechtschreibkompetenz auf Lernhilfeniveau. Wie, wenn nicht durch eine abweichende Gehirnstruktur wollen sie das erklären?
    Anscheinend haben Sie nie solche echten schwer betroffenen Legastheniker kennen gelernt, nie wirklich erlebt, wie schwer und frustrierend der Kampf gegen eine solche Störung ist, wenn trotz intensivem Training, Legasthenietherapie und harter Arbeit die Lernerfolge im Bereich des Lesens und Schreibens einfach minimal sind!
    Hätten Sie solche Menschen je erlebt, dann würden Sie nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und einen solchen Quatsch verbreiten!

    • mm
      Britta Büchner 13. April 2018 um 16:37 #

      Liebe/r D. Wilke,

      vielen Dank für Ihren Kommentar.

      Zunächst nochmals zur Studie: Die Forscher des MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften stellen selbst den Zusammenhang zur Lese-Rechtschreib-Störung her, da sich durch das Lesen-Lernen tiefgreifende Veränderungen auch im Thalamus zeigten. Bisher gab es die Vermutung, dass gerade in den Strukturen des Thalamus die Ursache für eine Lese-Rechtschreib-Störung läge und dass diese „tiefen“ Strukturen kaum veränderbar seien.

      Nach über 15 Jahren Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit erheblichen Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb ist meine Erfahrung folgende: Von all den Kindern, die mit der Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ (im allgemeinen Sprachgebrauch meist weiterhin „Legasthenie“) in die Praxis kommen, erreichen die allermeisten ein befriedigendes oder gar gutes Rechtschreib- und/oder Leseniveau. Gute Fortschritte gelingen insbesondere, wenn die Kinder selbst und auch die Menschen in ihrem Umfeld von der Veränderbarkeit der Situation überzeugt und daher gut motiviert sind.

      Auch ich kenne Kinder, die trotz angemessener Förderung sowie familiärer und schulischer Unterstützung und hoher Eigenmotivation auch nach langer Zeit noch große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben behalten. Das sind allerdings nur zwischen 5 und 10 Prozent der Kinder mit der entsprechenden Diagnose. Bei diesen Kindern können auch neurologische Ursachen nicht ausgeschlossen werden. Und es ist sicher sinnvoll, dies bei einem langen, schweren Kampf um die Buchstaben auch zu thematisieren.

      Was derzeit passiert ist aber, dass allen Kindern mit der Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ suggeriert wird, dass bei ihnen im Gehirn etwas grundlegend anders, evtl. sogar „gestört“ sei. Und auch von vielen Eltern und Lehrkräften wird dies so wahrgenommen. Der Blick auf das Kind verändert sich dadurch. Und – wie aus der psychologischen Forschung bekannt – auch das Selbstkonzept des Kindes, die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Und das ist nicht nur „Quatsch“, sondern wirklich schädlich …

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Qualifikation und Fortbildung von Lehrkräften zu Alphabetisierung und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS, Legasthenie)