Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) sieht „Legasthenie-Leitlinie“ äußerst kritisch

LRS und MedizinAnmerkungen zur Ablehnung der S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese-und / oder Rechtschreibstörung“ der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS)

Kontroverse Positionen gab und gibt es zur „Evidenz- und konsensbasierten Leitlinie Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörungen“. Nicht nur, dass die vorgestellte Leitlinie keineswegs auf einem Konsens aller beteiligten Institutionen beruht, sie weist auch gravierende theoretische sowie praktische Mängel auf.

Gegenpositionen zur Leitline vertreten in offiziellen Stellungnahmen maßgebliche Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS), die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bek), der Grundschulverband, die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE), die LegaKids-Stiftung und nun auch die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS).

Auszüge aus der Stellungnahme zur Leitlinie von der DGfS

Zunächst stellt die die DGfS klar, dass Sprachentwicklung kein „Reifeprozess“ ist. Sie ist daher nicht primär vom Individuum geprägt, sondern ein in hohem Maße sozialer Prozess. Sprachentwicklung hängt stark von der Lernumgebung – also von den vorhandenen Anregungen und Anforderungen – ab.

Auch der Schriftspracherwerb geschieht in der Interaktion (mit Schule und Elternhaus) und nicht etwa im Kind allein. „Somit stellt die Schule einen neuen sozialen Kontext sprachlichen Lernens dar und die Leistungen der Kinder spiegeln in starkem Maße die Qualität des Unterrichts wider.“ Die DGfS kritisiert Unterrichtsmodelle, die letztlich von Lernmodellen geprägt seien, die den Gegenstand, den sie vermitteln sollen, letztlich schon voraussetzen.

„Zusätzlich ist entsprechend abzulehnen, den Stand eines punktuellen Lernverhaltens an dem einer zufällig entstandenen Gruppe wie einer Schulklasse zu messen …“

Dieser zentrale Kritikpunkt an einer Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ wird durch die Frage verdeutlicht:

„Wie können eine „Alters- und Klassennorm“ sowie eine „IQ-Diskrepanz“ Maßstab einer Diagnose von Leistungen sein, bei denen es sich um eine didaktisch gesteuerte Aneignung eines systematischen Gegenstands handelt, dessen Strukturierung eine objektive Grundlage für diagnostische Aussagen bietet?“

Die DGfS wendet sich daher gegen

„eine Diagnostik, die, wie hier vorgesehen, ein geringes Leistungsvermögen schon durch sehr frühe Verdächtigungen zu pathologisieren und  – erstaunlicher noch – die Nachhaltigkeit kompensatorischer Anstrengungen der Lerner in Frage stellt, die möglicherweise durch Chancen einer sozialen Veränderung motiviert werden können“.

Die Stellungnahme seitens der DGfS kommt zu dem Fazit,

„dass die Belege, die in dem vorliegenden Text zusammengetragen sind, keine Aussagen über Normalität und Abweichung als Merkmale von Individuen zulassen, die das Konstrukt Legasthenie fundieren. Eine außerschulische Förderung von Kindern kann daher nicht auf diese Fundierung zurückgreifen – auch wenn sie aus unabhängigen Gründen so lange zu unterstützen ist, wie es der Schule nicht gelingt, ihrem generellen chancengewährenden und chancenwahrenden Bildungsauftrag nachzukommen.“

Und was den „Konsens“ bei der Leitlinienbildung betrifft, schreibt die DGfS, die selbst Mitglied der Arbeitsgruppe zur Erstellung der Leitlinie war:

„Die hier angesprochenen Fragen wurden zwar in der Arbeitsgruppe diskutiert, sie werden in dem vorliegenden Text jedoch nicht als kontrovers dargestellt. Ebenso wenig werden in der Quantifizierung der Abstimmungsergebnisse diejenigen, die gegengestimmt oder sich enthalten haben, aufgeführt. Der vorliegende Text spiegelt daher das Ergebnis der Diskussionen, sowie der Abstimmungsergebnisse nur in unzureichenden Anteilen wider und repliziert damit den a prioristischen Ansatz nur einer Partei in der Diskussion.“

„Stellungnahme zur Legasthenie-Leitlinie“ der DGfS

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Eine Antwort zu “Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) sieht „Legasthenie-Leitlinie“ äußerst kritisch”

  1. Ingrid Naegele 26. Mai 2016 um 10:15 #

    Sehr gut, dass Sie die Kritik an der neuen Leitlinie bündeln, aber leider verfügt die medizinische Seite über die besseren Vermarktungsstrategien, siehe Ärzteblatt, FAZ u.a.

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