Kommentar „Hirn-Scan zeigt Lese-Rechtschreib-Schwäche …
… bei Kindern vor Schuleintritt“
Dieser Nachricht begegnet man in der letzten Woche in zahlreichen Presseportalen und Veröffentlichungen. Ein Hirn-Scan kann eine Lese-Rechtschreib-Schwäche zeigen, schon bevor ein Kind überhaupt lesen und schreiben lernt? Was verbirgt sich dahinter? Und was sind die Konsequenzen?
Ergebnisse klassifizieren LRS/“Legasthenie“ nicht als Krankheit
Die beteiligten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig beschreiben ihre Befunde als eine Variation der plastischen Ausformung des Gehirns, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen genetischen Hintergrund habe. Diese Variation könne in der Folge zur Manifestation von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten im Sinne einer „disorder“ (also Schwäche oder Störung) beitragen.
Folgerungen aus den Ergebnissen
Die Forscher schlagen vor, alle Vorschulkinder einem MRT zu unterziehen, um so Kinder zu erkennen, die gefährdet seien. Damit, so meinen sie, könnten diese schon vor möglichen frustrierenden Erfahrungen in der Schulzeit gefördert und auf den Schuleintritt vorbereitet werden.
Gleichzeitig weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass ihre Ergebnisse allein LRS nicht erklären können, sondern nur in Ergänzung mit anderen Forschungsergebnissen sinnvoll seien. Um das Zustandekommen von LRS zu verstehen, müssten auch umgebende Variablen mit einfließen.
Kritische Überlegungen zum „Hirn-Scan“
Früherkennung klingt zunächst positiv, jedoch sollten auch mögliche negative Folgen einer solchen „Reihenuntersuchung“ berücksichtigt werden:
- Das MRT des Gehirns ist eine aufwändige, belastende sowie kostenintensive Untersuchung.
- Mit dem MRT würden nur bestimmte Kinder als „Risikokinder“ erkannt. Andere Kinder, deren LRS nicht durch eine besondere Hirnstruktur bzw. -aktivität erklärt werden kann, könnten übersehen werden, da das Screening Eltern, Erzieher und Lehrkräfte in einer falschen Sicherheit wiegen würde.
- Die Feststellung einer „abweichenden“ Hirnstruktur würde das Selbst- und Fremdbild der betroffenen Kinder negativ beeinflussen und könnte daher im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ wirken.
Fokus auf Bildungsstrukturen
Es stellt sich deshalb die Frage, ob Kosten und Aufwand für ein solches breit angelegtes medizinisches Screening sinnvoll sind.
Was könnten Maßnahmen sein, die wirklich allen Kindern nützen, die ein Risiko haben LRS zu entwickeln?
- Kindergärten, in denen von gut ausgebildeten (und ebenso gut bezahlten) Erzieherinnen und Erziehern Sprachbewusstheit kompetent angebahnt wird.
- Schulen, in denen Lehrkräfte mit solidem Wissen über die Hürden des Schriftspracherwerbs und die entsprechende Förderung arbeiten …
- … und zwar in kleineren Klassen und – wo nötig – mit der Unterstützung spezialisierter Fachkräfte in der Schule.
Denn: Wie die Forscher auch selbst anmerken, reicht das Erkennen allein nicht aus. Aus der Praxis kennen wir zahlreiche Verläufe, in denen sich frustrierende Lernerfahrungen in einer generalisierten Misserfolgsorientierung verselbständigen. Dies führt zu Vermeidungsverhalten der Lernenden und behindert die betroffenen Kinder und Jugendlichen beim (richtigen) Lesen und Schreiben mindestens ebenso stark wie etwaige entwicklungsneurologische Besonderheiten, die Ursache der ersten frustrierenden Erfahrungen gewesen sein mögen.
Ergebnisse, Stichprobe und Aussagekraft bzw. -genauigkeit
Das Wissenschaftlerteam um Michael A. Skeide machte MRT-Aufnahmen der Gehirne von Kindern in den Klassen 4 bis 8 sowie von Kindern im Kindergarten bis Klasse 1. Sie entdeckten dabei, dass Kinder mit einer bestimmten Variante des Gens NRSN1 – einem Gen, das für die Entwicklung der Nervenzellen wichtig sei – strukturelle Unterschiede in einer Hirnregion aufwiesen, die als „Visual Word Form Area“ (VWFA) bezeichnet werde. Dieser funktionale Bereich des Gehirns ist wahrscheinlich für das Erkennen bestimmter Objektformen wie auch von Buchstaben bzw. Wortbildern zuständig.
Die Stichprobe der Untersuchung war dabei mit 141 Kindern relativ klein, wie die Forscher selbst anmerken (vgl. Skeide et al., 2016). In der Gruppe der Vorschulkinder, die bis zum Ende der 1. Klasse begleitet wurden, befanden sich sogar nur 20 Kinder. Die „Trefferquote“ der MRT-Untersuchung lag bei 75 %, d.h. es gab auch Kinder mit einer auffälligen Ausformung der untersuchten Gehirnareale, die am Ende der 1. Klasse keine LRS aufwiesen. Bzw. gibt es eben auch Kinder, deren MRT nicht die untersuchte Besonderheit aufweist, die dennoch LRS entwickeln.
Schlussbemerkung
Es ist immer wieder frustrierend zu erleben, welchen Anklang und Nachhall Meldungen aus dem medizinischen Bereich bzgl. LRS/Legasthenie erzeugen. Sie wirken in ihrer Schlichtheit auf Anhieb einleuchtend, erhellend oder sogar bahnbrechend. Dass sich daraus keinerlei Konsequenzen für die Förderung der betroffenen Kinder, ihre psychische Gesundheit und ihren Bildungsweg ergeben, wird selten deutlich.
Meldungen zu guten pädagogischen Fördermethoden oder zu längst überfälligen Verbesserungen im Bildungssystem wie etwa kleineren Klassen, besser ausgebildeten Lehrkräften und der Einbindung des Know-Hows außerschulischer Förderkräfte (deren Effektivität im übrigen seit Jahrzehnten durch zahlreiche Untersuchungen belegt ist), erzeugen dagegen keinerlei mediales Echo.
Literatur
Skeide, M. et al. (2016): NRSN1 associated grey matter volume of thevisual word form area reveals dyslexia before school. In: Brain (June 2016).
Pressemitteilung auf den Seiten des idw (Informationsdienst Wissenschaft)
Eine sehr gute Reflexion dieser medizinischen Meldung, entspricht so auch meiner Meinung. Bleibt zu hoffen, dass längst überfällige Verbesserungen im Bildungssystem von oberster Stelle endlich in die Hand genommen werden und der politische Blick auf das Wohl jedes einzelnen Kindes gerichtet wird, anstatt sich der Hoffnung medizinischer „Sensationen“ hinzugeben.
Vielen Dank für Ihre Schlussbemerkung, Sie sprechen mir aus der Seele. Viel wichtiger als Hirnscans und sonstige Pathologien nachweisende Verfahren mit fragwürdigen Konsequenzen für unsere Kinder sind m.E. eine liebevolle, wohlwollende und freundliche Lern- und Arbeitsatmosphäre für alle am Lernprozess beteiligten Menschen. Damit ist ein Bildungssystem gemeint, das den Menschen ins Zentrum stellt und nicht Interessen von (Bildungs-) Politikern.
Danke für diesen Kommentar und vor allem den Schlussfolgerungen. Die meisten Kinder sind nicht krank, sondern werden nicht richtig gebildet und erzogen. Bessere Kindergärten und Schulen und auch bessere Informationen für Eltern, damit sie ihre Kinder fordern und fördern aber altersgerecht. Manchmal ist weniger mehr, Kinder sollten Kinder bleiben und in Muße spielen und lernen. Mein Eindruck bestätigt sich immer wieder mit einer “ DIagnose“ wird dem Kind geholfen und die Eltern können sich etwas zurücklehnen und entschuldigen alles mit das Kind ist krank. Das gilt nicht nur für LRS sondern auch für ADS und ADHS. Lasst uns doch normale gesunde Kinder haben.
Als GS- Lehrerin, die sich selbständig und auf eigene Kosten diesbezüglich weitergebildet hat, kann ich v.a. die Schlussbemerkung sehr unterstreichen. Es ist sehr schade, dass ich meine erworbenen Erkenntnisse aufgrund von Mangel an Lehrkräften, Zeit und Geld nicht in der Regelschule einsetzen kann! So bleibt nur, es privat anzubieten, wofür leider mir die Zeit fehlt!
Als Mutter eines Legasthenikers kann ich nur den Kopf schütteln, nach dem Motto: „Warum einfach, wenn´s auch umständlich geht?“ Ein MRT? Warum nicht gleich eine Hirn-OP? Ob ein Kind Schwierigkeiten beim Leseerwerb hat, erkennen doch schon Laien daran, ob es sich für Buchstaben interessiert, ob es von sich aus versucht, Wörter zu entziffern usw. Wir müssen aufhören, Schwächen zu suchen und damit auszusondern. Stattdessen sollten wir bei den Stärken anfangen, damit ermutigen und über den „Umweg“ Schwächen abbauen. In jedem Fall braucht man dazu die Mitarbeit des Kindes. Kriegt man die mit MRT+Diagnose? . .