Jungenleseförderung
Gastbeitrag von Dr. Bruno Köhler, Leiter des Projektes www.jungenleseliste.de
Schon in der ersten PISA-Studie 2000 wurde Jungenleseförderung als „bildungspolitische Herausforderung“ bezeichnet. Neun Jahre später hat die PISA-Studie 2009 gezeigt, dass sich der Anteil der Jungen in der höchsten Lesekompetenzstufe – im Gegensatz zu den Mädchen – gegenüber 2000 sogar noch verringert hat. Berücksichtigt man, dass Anfang 2013, also 13 Jahre nach der ersten PISA-Studie, bundesweit lediglich vier Jungenleseförderprojekte mit staatlicher Unterstützung eingerichtet wurden, ist klar, dass sich die Bildungspolitik in Deutschland dieser „bildungspolitischen Herausforderung“ Jungenleseförderung nicht stellt. Das ist fatal, denn Lesekompetenz ist eine wichtige schulische Basiskompetenz, d.h. sie hat entscheidende Auswirkungen auf die schulischen Leistungen für alle Fächer. Denken Sie gerade an Mathematik. Einem sehr guten Rechner nützen seine guten Rechenkünste nichts, wenn er z.B. nicht in der Lage ist, die für die Rechnung wichtigen Informationen aus einer Textaufgabe oder gar der Aufgabestellung in einer Klassenarbeit herauszulesen. Also müssen wieder die Eltern ran. Was kann man tun?
Grundsätzliches
Von der 1. bis zur 2. Klasse werden in der Schule die Grundlagen, das Handwerkszeug des Lesens vermittelt. In dieser Zeit geht es um den Erwerb der Schriftsprache. In dieser Zeit sind Kinder i.d.R. sehr gut motiviert, das Lesen zu erlernen, denn mit dem „Lesen können“ dringen sie in eine Erwachsenenwelt vor, die ihnen bislang vorenthalten war. Das spornt an. Wenn die Kinder dann grundsätzlich lesen „können“, d.h. alle geschrieben Worte auch in Sprache übersetzen können, verliert das „Lesen lernen“ und damit auch das Lesen ein Stück weit seinen Reiz für die Kinder. Das bedeutet aber nicht, dass das „Lesen lernen“ damit abgeschlossen wäre.Von der 2. bis zur 6. Klasse müssen die Grundlagen des Lesens gefestigt und ausgebaut werden. Hier geht es um die Entwicklung von Leseflüssigkeit, die Automatisierung der Lesevorgänge bis hin zum mühelosen Lesen auch umfangreicher Texte, dem Erlernen sinnerfassenden Diagonallesens und schließlich die Entwicklung autonomen, lustvollen Lesens. Das bedeutet, was oft unterschätzt wird, dass sogar in der 5. und 6. Klasse am Gymnasium noch am „Lesen lernen“ gearbeitet werden muss.Der Schlüssel zur Jungenleseförderung liegt in der Motivation zum Lesen. Darauf wurde auch schon in der ersten PISA-Studie hingewiesen. Vergleichen Sie dies mit einem Sportler. Wer gerne Sport treibt, wird dies oft und ausgiebig tun und damit die für ihn individuelle, maximale sportliche Leistung leichter erreichen können, als jemand, der sich nicht gerne bewegt. Lesen gehört aber leider nicht zur bevorzugten Freizeitbeschäftigung von Jungen.
Datenquelle: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2005. a.a.O. S.7
Was können Sie als Eltern zur Jungenleseförderung tun? Vorlesen
Schon bevor Kinder anfangen selber zu lesen, können Sie Leseförderung betreiben. Lesen Sie vor. Das muss nicht lange sein, aber regelmäßig – lieber fünf bis zehn Minuten pro Tag als 30 Minuten einmal pro Woche. Wählen Sie dabei Bücher aus, die sich Ihre Kinder wünschen. Das hat mehrere Effekte: Lesen wird durch das Vorlesen bei den Kindern als etwas Angenehmes empfunden. Zudem schulen Sie automatisch Hör- und Ausdrucksvermögen und grammatikalisches Verständnis bei den Kindern.
Stellen Sie Fragen (was meinst du…, warum hat er das getan, …was ist er – der Held der Geschichte – für ein Mensch, …wie geht es weiter?). Vorlesen schließt Kuscheln nicht aus (das gilt übrigens für jedes Alter). Wenn Sie vorlesen, nehmen Sie Ihr Kind ruhig in den Arm, lassen Sie es mit ins Buch schauen – und es kann damit gleich Trost finden, wenn es arg spannend wird.
Eine Altersgrenze, bis zu der Sie Ihren Kindern vorlesen können, gibt es nicht. Lesen Sie solange vor, bis die Kinder von sich aus sagen, dass sie das nicht mehr wollen.
Lesen lassen und nicht lesen lassen
Akzeptieren Sie die Interessen Ihres Kindes. Jedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit, seine eigenen Interessen und wird sich die Literatur heraussuchen, die ihm entspricht. Akzeptieren Sie dies und zeigen Sie Ihrem Kind damit, dass Sie auch seine Persönlichkeit respektieren. Wenn der Junge Interesse am Lesen gewinnt, findet er vielleicht später selber den Weg zur höheren Literatur. Verleiden wir ihm jedoch das Lesen, weil wir ihn zwingen, für ihn langweilige Literatur zu lesen, verlieren wir ihn dauerhaft als Leser.
Auch wenn es dem einen oder der anderen vielleicht nicht gefallen wird, aber es gibt ausgeprägte Unterschiede in den Genrepräferenzen zwischen Jungen und Mädchen. Wenn wir geschlechterspezifische Leseförderung betreiben wollen, dürfen wir diese Fakten nicht ignorieren, nur weil sie uns vielleicht nicht passen. Auch die Schule muss sich diesen Tatsachen stellen, wenn sie ihr Versprechen nach individueller Förderung ernst meint. Hier geht es nicht um die Bestätigung alter Rollenbilder. Es geht hier lediglich um die Lesemotivation, um die Lust am Lesen.
Datenquelle: Genrepräferenzen von 6 – 13 jährigen Jungen 2005; Aus Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest, KIM-Studie 2005: Kinder und Medien, Baden-Baden
Nachfolgende Graphik zeigt die geschlechtertypischen Unterschiede bei den Leseinteressen bei Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln.Datenquelle: Projekt „Zeitung in der Schule“, 2005; Quelle Böck 2007, S.68
Ihr Sohn schaut lieber Fernsehen?
Nun, zu vielen Filmen, Serien usw. gibt es mittlerweile Bücher. Er spielt lieber Computerspiele? Auch hier gibt es einiges in Buchform. Oder was wäre, wenn Computerspiele Realität würden? Ihr Sohn spielt gerne Fußball? Wie wäre es dann mit der Buch-Reihe „Die wilden Kerle“ oder eines der vielen unzähligen Fußball-Sachbücher. Ihr Sohn ist ein leidenschaftlicher Comic-Leser? Nutzen Sie das, unterstützen Sie es.
Das mag nicht unbedingt das sein, was Ihnen gefällt oder was Sie für wünschenswert halten, aber Ihrem Kind kann es den Einstieg in das Lesen erleichtern und helfen, seine Interessen zu vertiefen und das Gelesene anzuwenden.
Zwingen Sie Ihr Kind niemals zum Lesen. Lesen darf keine Strafe sein, auch kein Muss. Manchmal gibt es Phasen, in denen ein Kind oder ein Jugendlicher nicht lesen will -sei es aus Protest, sei es, weil er andere Dinge im Kopf hat. Fassen Sie sich in Geduld. Das ist nicht schlimm, wer einmal die Liebe zu Geschichten entdeckt hat, kehrt früher oder später dazu zurück.
Auch Jungen haben das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Wenn es nach zehn Seiten oder vielleicht sogar erst nach der Hälfte des Buches langweilig wird, braucht man nicht weiter zu lesen.
Die Bibliothek in Ihrer Nähe nutzen
Den Kindern andauernd neue Bücher zu kaufen, geht auf Dauer ganz schön ins Geld. Nutzen Sie deshalb die Bibliotheksangebote Ihrer Stadt oder Gemeinde. Selbst die kleinste Gemeinde hat i.d.R. eine kleine Gemeindebibliothek. Allerdings sind bei kleineren Gemeindebibliotheken die Öffnungszeiten kurz. Dafür haben wir aber die Erfahrung gemacht, dass diese auch sehr gerne auf Neubeschaffungsvorschläge im Rahmen ihres Budgets eingehen.
Gehen Sie selbst mit und zeigen Sie in der Bibliothek, wo die Jungs die für sie interessanten Bücher, Zeitschriften oder Comics finden können. Während Sie für sich selber Bücher auswählen, können die Jungen in Ruhe selbst schmökern und sich umsehen.
Streifen Sie über Flohmärkte – und vergessen Sie nicht, in den Bücherkisten zu wühlen.
Vertiefen Sie das Gelesene
Tauchen Sie mit ein in die Welt Ihres Jungen. Ihr Sohn liest gerne Bücher über Dinosaurier? Gehen Sie doch einmal mit ihm ins Museum. Ihn interessieren Bücher über Technik? Nehmen Sie mit ihm ein Radio auseinander, erklären Sie ihm Ihr Auto, lassen Sie ihn einen Blick unter die Motorhaube werfen. Sterne, Außerirdische, Science Fiction – ein Planetarium, eine Sternwarte, eine Nachtwanderung führen zur Anwendung des angelesenen Wissens. Ritterromane – eine Burgruine, ein Mittelaltermarkt können das nächste Ausflugziel sein. Es ist ein leider nur zu eingefleischtes Vorurteil, dass Kinder, die lesen, zu Stubenhockern werden. Häufig ist das Gegenteil der Fall.
Oder umgekehrt… Nach einem Zoobesuch noch einmal in ein Tierbuch schauen, nach den Nachrichten noch einmal gemeinsam in der Zeitung blättern oder in einem Lexikon (was ist ein Tsunami eigentlich?). Das zeigt Ihrem Kind, wie man Wissen aus Büchern holen und vertiefen kann, wie offene Fragen selbständig beantwortet werden können.
Computer
Vermitteln Sie Kindern, dass Computer und Buch keine Konkurrenten sind, sondern Medien, die sich ergänzen. Ein Computerfreak muss kein Lesemuffel sein. Im Gegenteil. Auch der Umgang mit dem Computer kann Lesekompetenz schulen. Der Umgang mit einer Suchmaschine bei der Suche nach Infos für einen Schulvortrag erfordert sehr hohe Lesekompetenz. Welche Schlagwörter umreißen das betreffende Thema möglichst genau? Und will man dann aus den vorgeschlagenen Texten diejenigen finden, die einem am meisten nutzen, muss man in der Lage sein, den Text schnell sinnerfassend quer zu lesen, um zügig entscheiden zu können, ob das Dokument für den Vortrag neue Erkenntnisse bringt oder nicht. Das erfordert eine hohe Stufe der Lesekompetenz.
Lesegelegenheiten schaffen
Bücher brauchen Platz, also gewähren Sie diesen. Ein Bücherregal im Kinderzimmer, eines im Wohnzimmer zeigen, dass Bücher in Ihrem Leben ihren selbstverständlichen Platz haben. Bestücken Sie diese auch mit interessanten Bildbänden (über die Bilder zum Text), die zum Schmökern einladen, wenn man mal einige Minuten nichts zu tun hat.
Lesen muss aber nicht zwangsläufig Isolation bedeuten. Mehrere Leser auf einer Couch, in einem Zimmer, können gemütlich sein und geben immer mal wieder Gelegenheit, sich gegenseitig von den Geschichten zu erzählen. Schaffen Sie also eine gemütliche Leseecke, in der Lesen zu einem gemeinsamen Erlebnis werden kann. Oder lesen Sie gemeinsam eine Geschichte vor, vielleicht auch einmal mit verteilten Rollen. Schaffen Sie Rituale. Im Advent können abends reihum Weihnachtsgeschichten vorgelesen werden.
Lassen Sie sich nicht entmutigen
Auch wenn dies ein Politiker im Bundestag behauptet hat, Jungen sind nicht dümmer als Mädchen und sie können nicht schlechter lesen als diese. Aber nicht alle Jungen lesen gerne oder gleich gerne. Manche werden Sie vielleicht nie zum lustvollen Lesen bringen. Das muss akzeptiert werden. Wir können Jungen aber nach unseren Möglichkeiten helfen und unterstützen, für sich ihre eigene, nützliche Lesekultur zu erschaffen. Nicht durch Zwang, sondern durch Liebe.
„Jungen müssen wissen, dass wir all ihre Seiten willkommen heißen und dass wir sie als diejenigen lieben, die sie wirklich sind.“ (Dr. William F. Pollack, amerikanischer Psychologe)
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