Gastbeitrag: Einige Gedanken zum Legasthenie-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Ist dieses Urteil wirklich ein Gewinn?
Bei genauerer Betrachtung stellt sich diese Frage sicher vielen Fachleuten und auch Eltern von Kindern mit LRS.
Dr. Jochen Klein vom KREISEL e.V. formuliert dies folgendermaßen:
Im November hat das Bundesverfassungsgericht eine viel diskutierte Entscheidung zum Thema „Zeugnisvermerk bei Legasthenie“ gesprochen. Die Einschätzungen dazu gehen sehr konträr auseinander: Ein Erfolg für die drei Klagenden – JA, der Eintrag war unrechtmäßig; ein Erfolg aus Sicht des BVL – JA, Legasthenie ist (endlich) als eine Behinderung anerkannt. UND NEIN: Ein Miss-Erfolg für Inklusion – alle Bundesländer sind aufgefordert, bei allen denjenigen, die eine Erleichterung für die Abiturprüfung erhalten haben, ebenfalls einen entsprechenden Vermerk einzutragen!
Daher möchte ich auf einige besondere Aspekte und bedenkenswerte fragwürdige Implikationen des Urteils aufmerksam machen.
JA, sagt das Gericht: Legasthenie ist eine Behinderung – aber was wird denn da unter Legasthenie verstanden?
Legasthenie ist nach dem Verständnis des Gerichts eine Lese- und Rechtschreibstörung, die eine, das ist wichtig, lebenslange Einschränkung mit sich bringt, insofern ist sie eine Behinderung mit Krankheitswert. Dabei orientiert sich das Gericht an der S3-Leitlinie, wie es in der Pressemitteilung des Gerichts heißt: „Bei einer Legasthenie beruhen die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand.“
Es mag sicher einen Wert haben, dass mit dem Urteil Legasthenie als Behinderung anerkannt ist, um daraus Förderansprüche, Nachteilausgleich und Notenschutz abzuleiten.
Aber wie kommen die einzelnen Betroffenen zur Diagnose? Ich bezweifle sehr stark, dass die für jeden Einzelfall erforderliche „medizinisch messbare neurobiologische Hirnfunktionsstörung“ nachgewiesen werden kann. Als geschätzte Zahl sind laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie 10 bis 12 % aller Menschen von einer Legasthenie betroffen. Eine durch MRT und andere Verfahren medizinisch begründete Diagnose, darauf bezieht sich das Gericht, wird es für diese Millionen Menschen mit Sicherheit nicht geben.
Was bedeutet das für diejenigen, die keinen solchen Befund haben? Kein Befund = keine Legasthenie = kein Anspruch auf Förderung, Nachteilsausgleich, Notenschutz?
Was ist mit denjenigen Schüler*innen, bei denen andere Gründe vorliegen, die zum Erscheinungsbild einer Legasthenie geführt haben? Andere Erkrankungen, Unterrichtsausfall, nicht gelungener Unterricht, keine schulische/außerschulische Förderung?
Ergänzung von LegaKids
Aus unserer Sicht wird mit diesem Urteil einmal mehr die mit bisherigen diagnostischen Mitteln nicht haltbare Unterscheidung zwischen Legasthenie als „genetisch bedingte Störung“ und LRS als „erworbener und damit prinzipiell veränderbarer Schwäche“ zementiert. Neben der diagnostischen Unsicherheit wird vor allem der Einfluss auf das Selbstkonzept Betroffener ausgeblendet – gleichgültig, ob sie in die Gruppe der sogenannten „Legastheniker*innen“ fallen oder eben ganz knapp nicht.
Wir fragen uns, warum wir trotz Bekenntnis zur Inklusion weiterhin ein Bildungssystem betreiben, in dem solche Diagnosen und Etikettierungen notwendig scheinen, um Kinder angemessen zu fördern und zu unterstützen.
Wer sich näher mit dem Urteil beschäftigen möchte, dem sei die Pressemitteilung des Verfassungsgerichts empfohlen.
Noch keine Kommentare.