„Legasthenie ist nicht heilbar“ – Was bedeutet und bewirkt dieser Satz?

Man findet ihn immer wieder, diesen Satz mit fatalen Auswirkungen

Tatsächlich sind das ganz schön viele Fehlinformationen bzw. negative Mythen in einem einzigen Satz:

  • Der Begriff „Legasthenieist seit langem in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen sowie im Schulrecht ungebräuchlich, hält sich aber hartnäckig in den Medien und dadurch auch im Alltag.
  • Der Ausdruck „nicht heilbarsuggeriert, dass es sich bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten um ein rein medizinisches Problem, also eine Krankheit oder Behinderung handle, die Ursachen für LRS sind allerdings (wissenschaftlich unumstritten) multikausal.
  • Die Unterscheidung „Legasthenie – Lese-Rechtschreib-Schwäche – ’normale‘ Kinder“ postuliert zusätzlich klar trennbare Gruppen, die es diagnostisch so nicht gibt.
  • Der Satz entlastet Betroffene auf Dauer nicht, sondern zementiert die Schwierigkeiten.
Schule

Diagnostik verrät etwas über die Ursachen, oder?

Bei der ICD 10 wird häufig fälschlich behauptet, hier würden Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten als Krankheit klassifiziert. Tatsächlich wird ausschließlich von „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ gesprochen.
Die medizinische Diagnose durch Kinder- und Jugendpsychiater*innen erzeugt bei den Beteiligten zunächst oft Erleichterung und das Gefühl, nun zu wissen, woran „es“ liegt. Das stimmt so leider nicht. Was die Diagnose aussagt (bis auf evtl. den IQ) wusste man im Prinzip vorher: Das Kind hat ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens und liegt damit am unteren Ende der Leistungsskala. Die Ursachen für die Schwierigkeiten sind durch die Diagnostik nicht klarer.

Es gibt keine klar abgegrenzte Gruppe von Kindern mit „Legasthenie“

Die Schwierigkeiten liegen außerdem auf einem Kontinuum, die Grenzen sind letztlich willkürlich und wurden über die Jahre auch immer wieder verändert. Es gibt nicht eine Gruppe von Kindern mit LRS oder „Legasthenie“, dann eine Lücke und dann die Gruppe von Kindern ohne Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb.
Besonders belastend ist die Situation für Kinder, die keine entsprechende Diagnose erhalten, aber ebenso Förderung bräuchten.

Ursachen von „Legasthenie“

Die übliche Diagnostik sagt nichts über die individuellen Ursachen der LRS eines Kindes aus. Kinder haben unterschiedliche Begabungen. Einige sind musikalisch, andere weniger (genetische Faktoren). Einige tun sich leicht mit den Buchstaben, andere schwer (kognitive Faktoren). Manche können beim Hören oder Sehen Laute oder Buchstaben nicht gut unterscheiden oder haben Schwierigkeiten in der Entwicklung der Sprache (neurophysiologische Faktoren). Es spielt auch eine Rolle, ob in der Familie gelesen wird (soziale Faktoren). Selbst Krankheiten, Streit zu Hause, Trennung der Eltern oder ein Todesfall können zu LRS beitragen (emotionale Faktoren). Auch die Methode, wie Kinder lesen und schreiben lernen sollen, passt nicht für alle (schulische Faktoren). Darüber hinaus sind die wenigsten Lehrkräfte ausgebildet, LRS vorzubeugen oder zu begegnen (bildungspolitische Faktoren).

Verantwortlich für Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten eines Kindes ist also meist ein komplexes Bündel an Einflussfaktoren: Der Ausprägungsgrad der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten hängt vermutlich davon ab, wie die einzelnen Faktoren gewichtet sind.

Wichtig ist daher: LRS liegen nicht alleine am oder im Kind, sie sind keine Krankheit oder Behinderung.

Der Blick aufs Kind verändert sich

Gleichzeitig verändert sich der Blick auf das Kind: Es wurde attestiert, dass das Kind etwas hat, was es daran hindert, angemessen lesen und schreiben zu lernen, möglicherweise etwas Organisches. Auch die Lehrkräfte fühlen sich u. U. weniger zuständig für dieses Kind, da es ja eine Art „Krankheit“ hat.

Das Selbstkonzept (Mindset) des Kindes verändert sich

Das Kind selbst entwickelt das Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmt, ein negatives Selbstkonzept bzgl. des Lesens und Schreibens verfestigt sich (fixed mindset). Die Selbstwirksamkeit wird damit deutlich herabgesetzt. Aus der Forschung wissen wir, wie entscheidend gerade dieses Gefühl der eigenen Kompetenz im Lernprozess ist. Damit wird das Label „Legasthenie“ zur self-fullfilling prophecy, d.h. es trägt dazu bei, dass die Schwierigkeiten des Kindes sich verfestigen.

Fazit

Wie gefährlich die Ursachenzuschreibung „Legasthenie = genetische Ursachen“ ist, zeigt sich u. a. in den Lernstandserhebungen der letzten Jahre. Die Lese-Rechtschreib-Kompetenzen der Kinder in Deutschland nehmen kontinuierlich ab. Eine Entwicklung, die in der Pandemie nochmals beschleunigt wurde. Daher müssten nach den gültigen diagnostischen Kriterien immer mehr Kinder als „Legastheniker“ diagnostiziert werden.

Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, auch gravierende, können ganz unterschiedliche Ursachen haben, die nicht allein im oder am Kind liegen. Wir brauchen dringend ein Schulsystem, das die Kinder begleitet und mitnimmt statt sie zu pathologisieren. Die betroffenen Kinder brauchen Ermutigung, ein positives Selbstkonzept und eine förderliche Lernumgebung. Oft benötigen sie eigene Lernwege, besondere Unterstützung und mehr Zeit als andere Kinder, um angemessen lesen und schreiben zu lernen. Aber für die meisten Kinder mit LRS ist dieses Ziel erreichbar!


Literaturtipp: Bernhard Hofmann, Ada Sasse (2006) Eine Legasthenie ist doch behebbar! Eine Befragung ehemaliger Legastheniker


Bildquellen: Illustration „Schulangst“ © LegaKids Stiftungs-Gmbh / Jakob Weyde, Franziska Bachmaier, Illustration „Spitze des Eisbergs / Ursachen von LRS“ © LegaKids Stiftungs-Gmbh / Jakob Weyde, Franziska Bachmaier

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Qualifikation und Fortbildung von Lehrkräften zu Alphabetisierung und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS, Legasthenie)