Tag der Legasthenie: „Legastheniker“ als Schimpfwort
Welcher „Legastheniker“ wären Sie denn gern?
Zum „Tag der Legasthenie & Dyskalkulie 2020“ am 30. September nähern wir uns dem Begriff Legasthenie einmal von einer anderen Seite. Denn nach wie vor wird „Legastheniker“ als Schimpfwort gebraucht und das bei Weitem nicht nur in Bezug auf das Lesen und Schreiben.
Wenn man in verschiedenen Medien recherchiert, entdeckt man, dass es inzwischen ausgesprochen viele Subspezies gibt: den „Tanzlegastheniker“, den „Bewegungslegastheniker“, den „Liebeslegastheniker“, den „Beziehungslegastheniker“, den „Fremdsprachenlegastheniker“, den „Soziallegastheniker“, ja, es finden sich auch „Behördenlegastheniker“, „Musiklegastheniker“, und – klar –, auch „Mathelegastheniker“. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Das Konzept „Legasthenie“
Es lohnt sich also, einmal über diesen so vielfach unhinterfragt und abwertend verwendeten Begriff nachzudenken. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Psychologen und Psychiater Ranschburg geprägt. Er beschrieb Kinder, die sich trotz normaler Beschulung und Unterstützung mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens schwer tun. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte das Konzept „Legasthenie“ dann seine Hochzeit. Schnell aufeinanderfolgend – manchmal auch gleichzeitig – wurden die unterschiedlichsten Ursachen für die Legasthenie verantwortlich gemacht. Dem Phänomen wurde dabei nach und nach ein Krankheitswert beigemessen.
Schnell gab es aber auch kritische Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft, die „Legasthenie“ als ein recht beliebiges Konstrukt ohne tatsächliche Erklärungskraft einordneten. Wer sich hier ein wenig länger mit dem Für und Wider, mit den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Interessen beschäftigt, dem kann ganz schwummrig werden …
In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion ist der Begriff „Legasthenie“ jedenfalls längst durch den Begriff „Lese-Rechtschreib-Störung“ ersetzt. Dennoch hält sich die Bezeichnung hartnäckig.
Sinn und Unsinn, Nutzen und Schaden
Was bedeutet es eigentlich, „Legastheniker“ zu sein? Kinder reagieren häufig mit Motivationsverlust: „Ich habe was im Hirn, da kann man nichts dagegen tun!“ Viele Lehrkräfte sagen: „Für die Therapie von Störungen mit Krankheitswert sind wir nicht ausgebildet.“ Eltern verzweifeln, weil sie und ihre Kinder im Stich gelassen werden und/oder weil sie sich keine außerschulische Förderung leisten können. Ganz zu schweigen davon, dass in vielen ländlichen Gegenden gar keine LRS-Förderkräfte vorhanden sind. Die Bildungspolitik versteckt ihr Versagen seit Jahrzehnten hinter der medizinisch-psychologisch dominierten Diskussion und schiebt Eltern und insbesondere Kindern die Verantwortung zu.
Wunsch zum „Tag der Legasthenie“
Auch wenn es leider nicht realistisch ist: Wie schöne wäre es, wir bräuchten kein Etikett Legasthenie und daher auch keinen Tag der Legasthenie und Dyskalkulie! Wie schön, wenn wir als reiches, entwickeltes Land Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten automatisch die Unterstützung zukommen zu lassen würden, die sie brauchen, um sich gut zu entwickeln … Wir wünschen uns heute allen Erfahrungen zum Trotz eine Bildungspolitik und ein Schulsystem, die auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet sind – ganz gleich, welche Schwierigkeiten und Stärken die Kinder mitbringen!
Bildquellen:
Illustration „Lurs“ © LegaKids Stiftungs-GmbH / Jakob Weyde, Franziska Bachmaier
Illustration „Lesen“ © LegaKids Stiftungs-GmbH / Eva Hoppe
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