LRS: Sinn und Unsinn genetischer Forschung

Pressemitteilung der LegaKids Stiftung, München, 12.09.19

Es ist irritierend, wie sehr das öffentliche Bild von LRS/Legasthenie durch medizinische Forschung dominiert wird. Einige Behauptungen wurden und werden ständig wiederholt. Dadurch werden sie nicht wahrer, aber letztlich in der Öffentlichkeit als wahr angenommen.

Behauptung: LRS/Legasthenie ist genetisch bedingt

Eine dieser Behauptungen ist medial besonders präsent:
„LRS/Legasthenie sind genetisch bedingt. Daher haben Betroffene ein Leben lang damit zu kämpfen. Darin ist sich die Forschung einig.“ (s. aktuell z.B. „Wenn das Hirn die Buchstaben verwechselt“ im BR 27.07.2019)

Verschwiegen: Multifaktorielle Entstehung von LRS

Einig ist sich darüber nur eine Gruppe medizinisch orientierter Forscherinnen und Forscher. Aber selbst die geht – analog zu den Forschenden aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Linguistik etc. – letztlich von einer multifaktoriellen Entstehung von LRS/Legasthenie aus (wie in entsprechenden Beiträgen oft auch irgendwann im Fließtext aufscheint). Lesen und Schreiben sind komplexe, kulturell geprägte Leistungen, deren Gelingen von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren abhängt: u.a. genetische Disposition – also ein gewisses Begabungsprofil, soziale Voraussetzungen, familiäre Struktur, Selbstbild des Kindes sowie nicht zuletzt schulische Bedingungen wie Klassengrößen, Ausbildung der Lehrkräfte usw. Stand der humangenetischen Forschung ist derzeit: Gene sind zwar wichtig, aber eben nicht determinierend.

Verschwiegen: Unklare Abgrenzung von LRS

Außerdem gibt es keine klar abgetrennten Gruppen, also etwa eine Gruppe von Kindern mit LRS/Legasthenie, dann eine Lücke und dann die sogenannten „normalen“ Kinder. Die Schwierigkeiten im Bereich Lesen und Schreiben liegen auf einem Kontinuum. Die Grenzziehung wird immer wieder mühsam neu verhandelt und auch hier sind sich keineswegs alle Forschenden einig (s. z.B. Report zur Entstehung S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“).

Fragwürdige Begründung für Genforschung bei LRS

Noch fragwürdiger wird die Dominanz der Behauptung: „Legasthenie ist genetisch bedingt“, wenn sie für sich in Anspruch nimmt, sinnvolle Grundlage für therapeutische Angebote zu sein oder zu werden:

„Das Ziel ist herauszukriegen, was die genaue biologische Ursache für die Legasthenie ist. Weil ich, wenn ich verstehe, was die genetische Ursache ist, daraus dann mein Wissen weiter entwickle und verstehe, was im Gehirn abläuft, dann habe ich die besten Voraussetzungen, um mit diesem Wissen die optimale Betreuung und Therapie von Kindern mit Legasthenie zu entwickeln.“ Prof. Tiemo Grimm, Humangenetiker Universität Würzburg („Wenn das Hirn die Buchstaben verwechselt“ im BR 27.07.2019)

Dabei geben die Forschenden nicht den geringsten Hinweis darauf, wie eine Therapie aussehen könnte, die mit dem Wissen um genetische Ursachen entwickelt werden sollte. Welche Art therapeutischer Prinzipien, welche deutschdidaktischen Methoden und Ansätze sollten sich aus einer solchen genetischen Disposition ableiten lassen?

„Die genetischen Ursachen für LRS zu erforschen, um Therapiemöglichkeiten zu entwickeln, erscheint in etwa so sinnvoll, wie die genetischen Ursachen einer gering ausgeprägten Musikalität zu untersuchen, um dann eine ‚genetisch fundierte‘ Therapie zu entwickeln“, so Dr. Britta Büchner, Psychologin, Lerntherapeutin und Leiterin der LegaKids Stiftung.

Letztlich ist es selbstverständlich, dass an so spät in der Menschheitsentwicklung auftretenden Kulturtechniken zahlreiche verschiedene Gene bzw. Genorte beteiligt sind. Genauso klar ist, dass es keine spezielle, abgrenzbare Gehirnregion gibt, die ausschließlich für die beteiligten Prozesse zuständig ist – und damit beeinträchtigt wäre.

Recht der Kinder auf Lesen und Schreiben

Da Lesen und Schreiben zentrale Kulturtechniken für gesellschaftliche Teilhabe sind, ist es unbedingt nötig, allen Kindern den Zugang zu ermöglichen, ganz unabhängig von ihrer genetischen Ausstattung. Jedes Kind hat das Recht auf Lesen und Schreiben. Und wenn Förderbedarf besteht, hat es ein Recht auf Unterstützung.

Denn Erfolge in der Förderung bei LRS, Legasthenie werden ausschließlich durch pädagogische und psychologische Maßnahmen erreicht, durch gute schulische Bedingungen sowie durch fachlich angemessene lerntherapeutische Arbeit, nicht aber durch medizinische Eingriffe oder gar Medikation.

Einerseits stehen schulischen und außerschulischen Förderkräften seit langer Zeit gute und erfolgreiche Förderansätze zur Verfügung, die ständig weiterentwickelt werden. Andererseits werden die Bedingungen für eine erfolgreiche Förderung immer schwieriger. Denken wir nur an tausende fehlende Lehrkräfte in den Grundschulen. Teilweise sollen Quereinsteiger, die keinerlei Ausbildung zur Didaktik, geschweige denn zu Hindernissen im Schriftspracherwerb haben, Lese- und Schreibanfänger in diesem komplexen Prozess begleiten. Hier sind Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten geradezu vorprogrammiert. Sind die dann genetisch bedingt?

Folge der dominanten medizinischen Sichtweise

Bei einer medizinisch geprägten Perspektive werden aus Schülerinnen und Schülern, aus Kindern mit sehr unterschiedlichen Begabungsprofilen, Patientinnen und Patienten – eine Stigmatisierung, die in Zeiten inklusiver Bildung eigentlich abgelöst sein sollte. Diese Perspektive beeinflusst sowohl den Blick von Eltern und Lehrkräften auf das Kind als auch das Selbstbild des Kindes. Die Selbstwirksamkeit, die Gewissheit also, selbst etwas beim Lesen und Schreiben bewirken zu können, wird ausgebremst. Dies ist im Übrigen ein echtes Hindernis im Therapieprozess.

Hier könnten die medizinisch auf diesem Gebiet Forschenden mithelfen, indem sie die Normalität von Vielfalt in der genetischen Ausstattung in den Vordergrund stellen, statt zu pathologisieren. Aber dafür bekommt man wohl eher keine Forschungsgelder.

Die Genforschung im Bereich Schriftspracherwerb hat als Grundlagenforschung ihre Berechtigung. Doch ihre Protagonisten sollten ihr Forschungsgebiet nicht überbewerten und dabei komplexe kognitive, soziale und emotionale Prozesse auf genetische Ursachen reduzieren oder gar Lösungen für besondere Lernschwierigkeiten in Aussicht stellen.

 

Bildquelle: fotolia / dna doppelhelix © Falko Matte

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3 Responses zu “LRS: Sinn und Unsinn genetischer Forschung”

  1. Frank Hollatz 16. September 2019 um 16:23 #

    Die Reduzierung auf genetische Disposition widerspricht natürlich jedem systemischen Verständnis.
    Eine Pathologisierung sehe ich hier weniger. Die sehe ich eher mit der längst erfolgten Aufnahme im ICD 10 (raus damit!).
    Mit Recht stellt keine einzige Krankenkasse in Deutschland Gelder für eine Legasthenie- oder Dyskalkulie-Therapie zur Verfügung.

  2. Almut Schladebach 30. Oktober 2019 um 12:43 #

    Die Zusammenstellung ist sehr gut und immer wieder sinnvoll. Ich habe den Text in meine Sammlung aufgenommen „Unterschied Legasthenie / funktionaler Analphabetismus“ http://www.alpha-fundsachen.de/2011/11/legasthenie/

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