Perspektiven auf AD(H)S

Linus, sagte seine Klassenlehrerin, sei „verspielt“. Er sei nicht in der Lage, sich auch nur zehn Minuten lang zu konzentrieren. Es dauerte nicht lange, bis die Klassenlehrerin bei Linus eine Art Behinderung ausmachte. ADS, vermischt mit ADHS, ein Zappler, ein Hampler. Ein Problememacher. […] Was Linus denn anstelle, fragten die Eltern. Er quatsche ständig dazwischen, sagte die Lehrerin. Er laufe durch die Klasse; er frage nach, obwohl die Lehrerin einen Sachverhalt bereits erklärt habe.

(Goos, Hauke: Du sollst keine Fehler machen. In: DER SPIEGEL 1/2014)

Emotionale Faktoren beim LesenVon ähnlichen Situationen hört man in den letzten Jahren vor allem im schulischen Kontext immer wieder. Internationale Studien sowie deutsche Krankenkassen verzeichnen gleichzeitig einen Anstieg der Diagnosehäufigkeit von ADHS, wobei die KiGGS-Studie im Bundesgesundheitsblatt von stabil gleichbleibenden Zahlen berichtet (Bundesgesundheitsblatt 2014). Gibt es Symptome, die mit Sicherheit eine Diagnose „ADHS“ zulassen? Kann man von Linus erwarten, dass er den ganzen Tag in der Schule auf seinem Platz sitzen bleibt? Oder ist es normal, gar wünschenswert, dass Kinder sich gerne und viel bewegen? Welche Kinder brauchen aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten definitiv professionelle Hilfe?

Es gibt innerhalb der Fachwelt bedeutende Meinungsverschiedenheiten im Bezug auf die Ursachen von ADS/ ADHS und die damit verbundenen Maßnahmen für das betroffene Kind. Während die einen eine bessere klinische/medizinische Erforschung der Ursachen von ADHS fordern, stellen andere die Existenz dieser „Krankheit“ in Frage und kritisieren, dass eine Pathologisierung die Auseinandersetzung mit den wirklichen Problemen und Bedürfnissen der betroffenen Kinder verhindere.

Die medizinische Sichtweise

Die medizinisch ausgelegte ADHS-Forschung geht von einer teils erblichen Erkrankung aus, die oftmals medikamentös behandelt werden muss. Genetische und neuropsychologische Ursachen sowie biochemische Veränderungen werden daher untersucht. Das Universitätsklinikum Frankfurt startete Mitte letzten Jahres ein von der EU gefördertes Forschungsprogramm (MiND) zu neurobiologischen Ursachen und Risikofaktoren von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) und ASS (Autismus-Spektrum-Störung). Ein Team aus Neurobiologen, Biologen, Genetikern, Ärzten und Psychologen solle, so die Ankündigung auf der Seite des Universitätsklinikums, die Forschung in diesem Bereich voranbringen, um die Medikation und die psychologische Behandlung zu verbessern.

Die Forderung nach einem gesellschaftlichem Diskurs

Lurs mit Ärger und StreitDie Konferenz ADHS, welche sich kritisch mit diesem Thema auseinandersetzt, reagierte Anfang 2016 auf diese Bekanntmachung mit einer Pressemitteilung. Sie kritisiert den ausschließlich medizinischen Ansatz und gibt zu bedenken, dass die unklare Forschungslage in diesem Bereich keine Pathologisierung der sogenannten „hyperaktiven“ und verhaltensauffälligen Kinder rechtfertigen würde. Indem man die Ursachen von ADHS in den Genen suche, würde gesellschaftlichen und familiären Faktoren nicht ausreichend Beachtung geschenkt.

Auch die amerikanische Forscherin Lydia Mary Furmann betont 2008, dass Studien zu genetischen Ursachen unhaltbar seien, da u.a. nichtgenetische Faktoren (wie Lernschwierigkeiten, familiäres Umfeld, etc.) nicht ausreichend beachtet worden wären. Bezeichnenderweise habe gerade der „Erfinder“ dieses „Krankheitsbildes“ Eisberg am Ende seines Lebens in einem Interview gesagt, dass ADHS ein „Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“ sei, deren genetische Veranlagung überschätzt werden würde

  • Die Pressemitteilung der Konferenz ADHS können sie sich hier im pdf-Format herunterladen.
  • Eine ausführliche Beschreibung des Forschungsprojekts des Universitätsklinikums in Frankfurt können Sie hier finden.

Literaturhinweise

Furman L.M. Division of General Academic Pediatrics, Rainbow Babies and Children’s Hospital, Cleveland, Ohio 44106, USA: Attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD): does new research support old concepts? J Child Neurol.2008 Jul; 23(7):775-84.

Banaschewski, T. u.a.: Towards an understanding of unique and shared pathways in the psychopathophysiology of ADHD. Dev Sci. 2005 Mar;8(2):132-40.

Blech, Jörg: Schwerrmut ohne Schamm. In: DER SPIEGEL 06/2012.

Goos, Hauke: Du sollst keine Fehler machen. In: DER SPIEGEL 1/2014.

Schlack R., u.a., KiGGS Study Group (2014): Hat die Häufigkeit elternberichteter Diagnosen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in Deutschland zwischen 2003–2006 und 2009–2012 zugenommen? In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 57(7) (http://edoc.rki.de/oa/articles/rePL8nUY8YWJU/PDF/25Am4rYnuaKQ.pdf).

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