„Vermessene Schulen“: Zehn Thesen zum Nachdenken

Bruegelmann_Vermessene-SchulenGastbeitrag und leicht redigierter Auszug aus:
Brügelmann, H. (2015): Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co. Weinheim/Basel: Beltz.

Großstudien und standardisierte Erhebungen können für bestimmte Zwecke hilfreich sein – auch in der Pädagogik. Aber sie sind einer selbstkritischen Alltagserfahrung und der sorgfältige Beobachtung von Einzelfällen nicht grundsätzlich überlegen. Um den Nutzen empirischer Studien zu begründen, darf man zudem gute Forschung nicht mit schlechter Praxis vergleichen. In konkreten Handlungssituationen sind erfahrene Praktiker/innen klugen Forscher/inne/n meist überlegen. Weder ist Bildungsforschung zu Vorschriften berechtigt noch ist sie in der Lage, Handlungsentscheidungen aus Daten abzuleiten. Ihre Aufgabe ist Anregung, Herausforderung und kritische Befragung.

Begründung für einen zurückhaltenden Umgang mit Tests und anderen standardisierten Verfahren:

1. Fieber zu messen, ist noch keine Diagnose – und Fieber zu senken, keine Therapie. Beispielsweise bedeuten gleiche Testwerte nicht gleiche Kompetenzen und ein Anstieg richtiger Lösungen nicht immer eine Verbesserung der Leistungen.

2. Menschliche Verhaltensweisen – auch in standardisierten Tests – sind immer mehrdeutig: Dieselben Aufgaben, aber auch deren Lösungen, werden von anderen Beteiligten je nach ihren Erfahrungen und Theorien unterschiedlich gelesen.

3. Die Wirkungen pädagogischer Maßnahmen sind konzept- und kontextabhängig. Menschen und ihr Lernen lassen sich nicht vermessen wie Maschinen und technische Prozesse – und noch vermessener wäre es zu glauben, sie ließen sich vergleichbar steuern und planen.

4.  Erfolge und Misserfolge von Interventionen streuen innerhalb eines jeden Ansatzes je nach Kontext breit. Deshalb kann die Forschung zwar jeweils besondere Potenziale und Risiken benennen, aber nur in dieser vorsichtigen Form generelle Qualitätsurteile über konkurrierende Konzepte fällen.

5. Zahlen sprechen nicht für sich. Je komplexer die statistischen Verfahren, desto begründungsbedürftiger ist ihre Wahl und desto interpretationsbedürftiger sind ihre Ergebnisse. Sobald es zwei oder mehr Studien gibt, haben wir – wie bei der Alltagserfahrung – oft widersprüchliche Ergebnisse – und damit denselben Interpretationsbedarf, der ebenfalls personabhängig befriedigt wird.

6. Die Stärken von Großstudien mit standardisierten Instrumenten sind zugleich ihre Schwächen: Sie können nur wenige Faktoren erfassen, die Kategorien der Untersuchungen sind notwendig abstrakt und individuelle Bedeutungen gehen verloren.

7. Wahrscheinlichkeitsaussagen, die aus der die Untersuchung großer Populationen gewonnen werden, eignen sich nur sehr eingeschränkt für die Evaluation einzelner Schulen, Lehrer/innen oder Schüler/innen. Forschung muss sich auf unterschiedliche Zielgruppen einstellen: Politik und Verwaltung sind primär an Häufigkeiten und Durchschnitten interessiert, Lehrer/innen und Eltern an Besonderheiten und Streuungen.

8. Anders als im Verhältnis von Physik und Bautechnik lassen sich Allgemeinaussagen in der Pädagogik nicht einfach »anwenden«. Sie müssen kontextbezogen interpretiert werden. Insofern kann „Evidenzbasierung“ Subjektivität nicht ausschalten.

9. Die sozialen Kontexte und die politischen Implikationen von Evaluation werden nicht zureichend reflektiert. Technisch-methodisch wird in der heutigen Bildungsforschung auf einem sehr viel höheren Niveau gearbeitet und diskutiert als im Blick auf ihre Rolle in der Gesellschaft und gegenüber der Praxis.

10. Evaluation als Blick von außen ist wichtig, um scheinbare Selbstverständlichkeiten in der Praxis infrage zu stellen – „von außen“ heißt aber nicht zwingend »von oben«. Dialog und Unterstützung statt Autoritätsanspruch und Vorschrift – nur so wird Evaluation im Bildungswesen produktiv. Die besondere Kompetenz von Praktiker/inne/n anzuerkennen bedeutet: Man kann nicht für sie Fortbildung zum Verständnis empirischer Methoden fordern, wenn man nicht auch von die Wissenschaftler/innen verlangt zu lernen, was es heißt, unter besonderen Bedingungen und unter Zeitdruck Fallentscheidungen zu fällen.

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