Gastkommentar von Ingrid Naegele zum Thema „Hirn-Scans und LRS“
Die mediale Wirkung des Forschungsberichts zur vorschulischen Feststellung von LRS-Risikokindern hatte das alphaPROF-Team in der vergangenen Woche dazu veranlasst, eine eigene Stellungnahme zu verfassen.
Hierauf haben wir zahlreiche Reaktionen erhalten, beispielsweise von der bekannten Autorin mehrerer LRS-Ratgeber Ingrid Naegele. Ihre ausführliche Replik stellen wir als Gastkommentar vor:
Kommentar von Ingrid Naegele
Vielen Dank, dass Sie sich kritisch mit den MRT-Untersuchungsergebnissen der Leipziger Forscher vom MPI mit Kleinkindern zur Prognose von Legasthenie auseinandersetzen, die derzeit vielfältig unkommentiert und nicht hinterfragt veröffentlicht werden. Aber ich befürchte, Ihre ausgezeichnete Stellungnahme wird ebenso wenig den Weg in die öffentliche Diskussion finden wie die kritische Auseinandersetzung von Böttinger aus dem Jahr 2016.
Leipziger Neurowissenschaftler glauben „beweisen“ zu können, dass man Legasthenie bereits vor dem Schulbeginn mit Hirnscans feststellen kann und fordern gleich, dass alle Vorschulkinder mit dieser kostspieligen Methode untersucht werden. Mit dem Geld für die kostenintensiven MRT-Untersuchungen hätten viele Kinder sinnvolle „Literacy“-Erziehung zum Entdecken und Erforschen von Sprache und Schrift erhalten können.
Mögliche Interessen
Aus Sicht der Forscher eine clevere Idee, denn so könnten sich die Anschaffungskosten der teuren Apparate rechtfertigen lassen und rasch amortisieren. Andere wie Paracchini verbreiten Untersuchungsergebnisse im Internet, nach denen man die „Krankheit“ Legasthenie sein ganzes Leben behält. Sie sei eine eine genetische Erkrankung und Leiden, obwohl die Genanalysen nur an Mäusen durchgeführt wurden.
Die Kritik an der Aussagekraft von Hirnscans wird auch in der Fachwelt (Hasler 2012, Satel/Lilienfeld 2013) geführt, da vielfach unberücksichtigt bleibt, dass die Hirnaktivität gar nicht direkt gemessen werden kann, sondern vielmehr die Durchblutung, aus der aber keine Rückschlüsse gezogen werden können, was in diesen Arealen wirklich geschieht. Auch werden in den Pressemitteilungen der Leipziger Forscher die Nebenwirkungen der Untersuchungsmethode banalisiert, auf die z.B. Pearce (2012/13), Wang (2013) und Charisius (2016) verweisen. Desgleichen wird die störende Beeinflussung der Messergebnisse durch externe Faktoren wie Stress, Ängste der Kinder, der Lärm der Apparate u.a. ausgeklammert.
Nicht unerwähnt bleiben sollte der ursprüngliche Untersuchungsansatz der Leipziger Forscher. Sie hatten 2012 in der Presse Eltern mit Kleinkindern gesucht, wenn in der Familie Fälle von Legasthenie bekannt seien. Als Begründung wurde angeführt, dass man mit Hilfe bildgebender Verfahren lange vor dem Beginn des Lesen- und Schreibenlernens eine eventuell später auftretende Legasthenie vorhersagen könne, um damit die Krankenkassen in Zugzwang zu bringen sich an den Therapiekosten zu beteiligen.
Fragliche Aussagekraft
Die Versuche der Hirnforschung, neurophysiologische Erklärungsansätze aus Beobachtungen von Hirnaktivitäten direkt auf pädagogische Fragestellungen zu übertragen, um daraus Konsequenzen für das Lernen abzuleiten (Spitzer 2003), müssen kritische gesehen werden, denn „Lernen lässt sich nicht auf Hirnfunktion reduzieren. Das Wissen um die Biochemie des Hippocampus nützt den Lehrern im Klassenzimmer wenig“ (Stern 2003).
Quellen
Böttinger,T. (2015): „Bilder lügen nicht?- Zur Gefährdung individuumszentrierter Pädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 66, S. 422-431.
Charisius, H.(2016): Neuroforschung. Trugbilder im Hirnscan. Süddeutsche Zeitung, 5.7.2016.
Hasler, F.(2012): Kritik an Neuroscans. In: Spiegel Online, 16.12.2012.
Klein, S.(2016): Dyslexie. Was verbirgt sich hinter der Lesestörung? S. Paracchini im Gespräch. www.spektrum.de/news/was-verbirgt-sich-hinter-der-Lesestörung/1434952 (Abruf 3.2.2017).
Pearce, M.S.(2012/2013): Radiation Exposure from CT scans in childhood … In: The Lancet.
Satel, S./Lilienfeld, S.O. (2013): Brainwashed. The Seductive Appeal of mindless Neuroscience. New York: Basic.
Spitzer,M. (2003): Lernen. Heidelberg: Spektrum.
Stern, E. (2003):Neurodidaktik. Rezepte statt Rezeptoren. In: Die Zeit, 25.09.2003.
Wang, S.S. (2013): CT Scans on Children worry Experts. In: Wall Street Journal, 11.6.2013.
Mehr auch im Praxisbuch LRS von Ingrid Naegele, erschienen im Beltz-Verlag.
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