Druck rausnehmen! LRS/Legasthenie und das Recht auf Normalität

Vergangene Woche wurde dem Schweizer Jacques Dubochet der Nobelpreis für Chemie verliehen. Danach war das beherrschende Thema in den Medien weniger seine Forschung zur Entschlüsselung der Struktur des Zika-Virus, sondern vielmehr seine Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in der Kindheit. „Toll, was man trotz Legasthenie alles erreichen kann!“, mögen viele denken. Doch wie hilfreich ist die mediale Abarbeitung derartiger Lebensgeschichten tatsächlich für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS)?

„Berühmte Legastheniker“

Was haben Schriftsteller John Irving, der schwedische König Carl Gustaf, Microsoft-Gründer Bill Gates, Hollywood-Regisseur Steven Spielberg und Schauspieler Tom Cruise gemeinsam? Sie alle haben Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. Selbst Mozart, Einstein und Jules Vernes sagt man „Legasthenie“ nach. Nun ist auch noch ein Nobelpreisträger hinzugekommen: Jacques Dubochet. Der Tenor, der dabei häufig mitschwingt ist: Menschen mit LRS/Legasthenie sind ganz besonders intelligent / kreativ / durchsetzungsstark / begabt. Das kann Kinder und Erwachsene enorm unter Druck setzen. Nach dem Motto „Und, was kannst du dafür besonders gut?“ entsteht der Zwang, das „Defizit“ LRS durch eine außergewöhnliche Begabung auszugleichen.

Hohe Erwartungshaltung

Es ist gut, wenn Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten nicht verheimlicht werden, wenn Betroffene offen von ihren Problemen im Alltag berichten und darüber, was ihnen geholfen hat. Und natürlich ist es wichtig, auch die eigenen Stärken wahrzunehmen und einzusetzen. Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, müssen häufig viele Hürden überwinden, ehe sie eine individuelle Förderung erhalten. Manche haben damit zu kämpfen, dass Eltern oder Lehrkräfte die LRS nicht sofort als solche erkennen. Andere schaffen mit Ach und Krach einen Schulabschluss und bleiben doch immer hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dass es Betroffene gibt, die einen Nobelpreis gewinnen, Multimillionäre oder weltbekannte Schauspieler sind, ist da nur bedingt hilfreich. Denn die Erwartungshaltung des Umfeldes an Kinder mit LRS kann ohnehin schon erdrückend groß sein. Das Problem ist ja nicht das Kind, sondern falsche Erwartungen, das Fehlen individueller Förderung, zu wenig Zeit und zu wenig Verständnis und Geduld seitens der Schule, Kollegen, Familie oder der Gesellschaft.

Keine Krankheit

Ein weiterer Aspekt ist bei der teils unreflektierten Medienberichterstattung problematisch: Es wird suggeriert, dass  „Legasthenie“ eine Krankheit sei. Betroffene können sich „herauskämpfen“, sie überwinden, trotz des „Mankos“ erfolgreich sein. Dabei benötigen Menschen mit LRS vor allem angemessene Unterstützung. Wenn ein Kind beim Bockspringen Hilfestellung braucht, spricht man ja auch nicht von einem „Defizit“. Schließlich ist jeder Körper anders, genauso wie jeder Mensch einzigartig ist. Und auch jede Lebensgeschichte ist individuell. Sicher ist: Mit gezielter Förderung kann jeder viel erreichen.

Denn Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sind vor allem eins: völlig normal. Sie haben genauso ein Recht auf Normalität und Durchschnittlichkeit wie jedes andere Kind oder jeder andere Erwachsene. Sie müssen keine Hochbegabung haben, keinen Nobelpreis gewinnen und auch nicht ausnehmend gut musizieren. Es reicht aus, dass sie sind, wie sie sind.

Diese Gewissheit ist es, die Kinder stark macht.

 

Bildquelle: © TuTheLens / Fotolia

 

Tags: , , , , ,

5 Responses zu “Druck rausnehmen! LRS/Legasthenie und das Recht auf Normalität”

  1. Wort 13. Oktober 2017 um 21:07 #

    Die Folge in unserem Schulsystem sind psychosomatische Störungen , Schulangst. , die Angst aufzufallen und das Bestreten irgendwie mitzuhalten…. die Beeinträchtigung im Schulalltag ist allgegenwärtig, da kann ich dem Kind sagen, du bist einzigartig, andere haben es auch…..
    Es wird dich anschauen mit Augen die dir dazu viel sagen möchten und dennoch schweigen .Sie haben ein Recht auf Normalität. …aber…….!!!!

  2. Jutta Zangl 9. November 2017 um 12:08 #

    Ich verstehe nicht, weshalb in unseren Schulen mit solcher Hartnäckigkeit Rechtschreibung gepaukt wird; ebensogut könnte man auch noch mit Hammer und Meisel auf Steintafeln schreiben. Die Welt von heute – und vor allem die Welt von morgen – braucht ganz andere Fähigkeiten: Mitgefühl, Kreativität, Flexibilität … Auf internationalen Lehrerfortbildungen wird sehr viel Wert auf „higher order thinking skills“ gelegt (analysieren, evaluieren und kreieren), hierzulande scheinen wir über das stupide Auswendiglernen kaum hinwegzukommen! Die wirklich kreativen Kinder werden krank geredet.

    • mm
      Isabel Boergen 10. November 2017 um 11:05 #

      Liebe Frau Zangl, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sind weder „Krankheit“ noch „Defekt“, da haben Sie vollkommen Recht. Das stellen wir bei LegaKids und alphaPROF immer wieder klar. Leider geht es bei der Leistungsbeurteilung nicht immer so zu, wie man es den Kindern wünscht. Wir unterstützen Kinder darin, sich gemäß ihrer Anlagen bestmöglich zu entwickeln – ohne Scham, Schuldgefühle oder Versagensängste. Und Kreativität und korrekte Rechtschreibung schließen sich ja nicht per Se aus. 🙂 Herzliche Grüße!

  3. c.motz 15. Dezember 2017 um 20:30 #

    Gibt es gar keine berühmten Legasthenikerinnen?
    Fehlendes Gendermainstreaming fällt auf. Schade.

    • mm
      Isabel Boergen 19. Dezember 2017 um 14:47 #

      Hallo, liebe(r) C. Motz, natürlich gibt es berühmte Frauen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Dass in dieser Aufzählung keine genannt wird, war keine Absicht. Deshalb vielen Dank für den Hinweis – wir sind stets bemüht, jedem Anliegen gerecht zu werden, und werden in Zukunft noch stärker auf unsere Sprache achten. Beste Grüße von Ihrem alphaPROF- und LegaKids-Team!

Schreiben Sie einen Kommentar

Captcha loading...

Qualifikation und Fortbildung von Lehrkräften zu Alphabetisierung und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS, Legasthenie)